Musik zu entdecken ähnelt manchmal boshaft dem Reisen: Seychellen sind vermutlich ganz zauberhaft – doch wohl kaum anders als jene Inseln in der Karibik, die man in Magazinen und Werbespots seit Jahrzehnten vorführt.
Die Gipfel des Himalaya mögen majestätisch sein – aber schmälern sie die Ehrfurcht vor der Matterhorn-Nordwand? Und muss man „Indian Summer“ an der amerikanischen Ostküste live sehen, wenn man sich an den Farben der Provence und Toskana noch nicht sattsah? Nichts gegen Pyramiden, Elefanten und Wolkenkratzer, alles tausendmal auf Papier und Monitor betrachtet. Wie unbekannt waren mir dagegen lange Zeit der fränkische Obermain, die Ardennen, der Dom von Fulda und dieses knuffige Dünenhaus in Jütland … und ich habe so verflucht viel von Europa noch immer nicht gesehen und begriffen.
So ungefähr muss man sich auch mein Verhältnis zur Musik vorstellen. Keine Zeit mehr, dem Trend hinterherzulaufen. Keine Lust, den x-ten Dance-Aufguss von Songs zu hören, die schon vor 40 Jahren reizlos waren. Überdrüssig der „besten Hits der Pandemie“. Aber in meinem kleinen Büro steht ein funktionstüchtiges Cassettendeck, daneben ein Regal mit etwas über 30 Tapes: ARD-Nachtrock, Connection, Nachtflug. Auf DAT kommen noch ein paar „Rolling Stone Radio Shows“ hinzu. Beileibe nicht jeden Abend, aber doch ein-, zweimal in der Woche begleiten mich diese Tapes als „Tages-Absacker“ oder Soundtrack zum kreativen Spinnen in die Nacht. Jedes von ihnen hab ich mindestens ein Dutzendmal gehört, den absichtsvollen oder zufälligen Mix genossen, hingenommen oder verwünscht. Und fast noch mehr als über die Songs aus aller Herren (und Damen) Länder freue ich mich über Moderationen, die frei heraus, dennoch von Sorgfalt und Kompetenz gezeichnet, gut erklären, Connections herstellen. Weil der Tom schon immer etwas langsamer war als die anderen Kinder, dauert der Prozess des Begreifens bis heute an. Es ist ein Schatz, an dem man selbst nach 30 Jahren neue Facetten entdeckt.
Bei einer imposanten Dame entdeckte ich einst fünf oder sechs Bangs-Cassetten im Regal. Dass sie über mehrere Jahre zur engen Gefährtin wurde, verdankt man wohl diesem Fund. Eine andere großartige Freundschaft entsprang einem Kantinentalk über den smarten jungen Engländer: Sie wies mich auf die neue Sendung beim DRadio hin, ich revanchierte mich mit einer Kopie des 800. und letzten BFBS-Nightflights. Das ist elf Jahre her, wir wollen uns immer noch kennen. Wohl, weil kein völlig schlechter Mensch sein kann, wer ein Faible für solche Radiosendungen hegt. Und vermutlich über eine gewisse Portion Weltoffenheit, Interesse … und (erarbeitetem) Geschmack verfügt. Bei Tinder wird man damit nicht mehr punkten können.
Ulla Meinecke sagt mir: „Alan Bangs ist für mich der Captain, der uns durch die Nacht flog.“ Ich hab’s nicht so mit dem Fliegen, aber auch am Boden ist man für einen versierten Scout dankbar. Der einem die Schönheiten zeigt und die Fehlwüchse, der das Besondere vom Beliebigen unterscheidet. Alan Bangs hat sich auch einmal als Reiseführer versucht und eine Sendung unter dem Einfluss einer zehntägigen Reise nach Mallorca fabriziert. War nicht so der Knüller, weswegen ich bis heute die Insel ignoriere. Trotzdem geblieben ist der Erstkontakt mit „Penguin Café“ – und als späte Folge der Konzertbesuch, Januar 2020 in Bochum, knapp vor Corona.
Lieber Alan: Du hast vermutlich wenig Vorstellung, welch seltsame Wirkweisen deine Radioshows auch nach Jahrzehnten noch entfalten. Musst du auch nicht. Es reicht, wenn du realisierst, dass es uns damit einfach gut geht. Eine kleine Zugabe könnte freilich schon in Ordnung gehen. Ganz ehrlich: 70 ist doch für eine Legende kein Alter …
Beste Geburtstagswünsche kommen vom Tom